Ärzte Woche, 21. Jahrgang Nr. 19, 2007

Nur positive Wirkung?

Nikotinersatzpräparate sind ins Zentrum wissenschaftlicher Diskussionen geraten

Die Nikotinersatztherapie wurde in den letzten Jahren als Weg aus der Zigaretten-Abhängigkeit intensiv propagiert. Nun warnt ein internationales Toxikologenteam vor einer Verharm­losung der Behandlung.

Die Nikotinersatztherapie ist eine große Hoffnung für aufhörwillige Raucher, steigert sie doch die längerfristigen Abstinenzraten, je nach Studie, um bis zu 50 Prozent. Befürworter betonen weiters die gesundheitliche Unbedenklichkeit der Nikotinzufuhr über Kaugummi, Pflaster oder Inhalatoren. Diese Ansicht wird nun in aktuellen Untersuchungen in Frage gestellt. Ein internationales Toxikologenteam warnt vor dem leichtfertigen Einsatz der Nikotinersatztherapie1: Die Substanz sei auch ohne die übrigen Rauchschadstoffe kanzerogen und berge überdies ein besonderes Risiko für das ungeborene Kind sowie im Jugendalter.

Nikotin als Kanzerogen

Laut den Studienautoren häufen sich die Hinweise, dass Nikotin als Promotor in der Kanzerogenese eine Rolle spielt. So konnte in Untersuchungen gezeigt werden, dass Zellen aller histologischen Typen von Bronchialkarzinomen nikotinerge Acetylcholin-Rezeptoren an ihrer Oberfläche tragen, über die sie Wachstumssignale erhalten. Ein bekannter Weg dafür ist die Aktivierung der Proteinkinase Akt durch Bindung von Nikotin an den Rezeptor. Akt fördert das Zellwachstum und hemmt die Apoptose. Die Proteinkinase konnte in allen Lungenkrebsproben von Rauchern identifiziert werden. Nikotin stimuliert zudem die Angiogenese und begünstigt so das Tumor-Wachstum. Prof. Dr. Manfred Neuberger, Leiter der Abteilung für Allgemeine Präventivmedizin am Institut für Umwelthygiene der Universität Wien und Mitautor der Studie, empfiehlt daher, die Nikotinersatztherapie nur bei Rauchern mit starker Abhängigkeit oder bei Personen, die schon mehrere frustrane Abstinenz-Versuche hinter sich haben, einzusetzen. Und dann nach Möglichkeit nur für maximal drei Monate. Denn, so die Warnung von Prof. Dr. Rolf Schulte-Hermann, Leiter der Arbeitsgruppe Toxikologie und Prävention am Krebsforschungsinstitut der Medizinischen Universität Wien: „Es ist damit zu rechnen, dass bei langfristiger Anwendung das Krebsrisiko nicht, wie üblicherweise nach dem Rauchstopp, absinkt, sondern im Gegenteil sogar ansteigt.“

Kinderschutz bedeutet Nikotin-Karenz

Die Empfehlung der britischen Behörden, die Nikotinersatztherapie auch für Schwangere und Jugendliche einzusetzen (Action on Smoking and Health, 2005), ist für das Toxikologenteam Anlass für eine kritische Analyse der vorhandenen Studiendaten zum Einfluss von Nikotin auf den Fetus. Ihr Resümee: Der Rauchinhaltsstoff kann gravierende negative Auswirkungen auf die Entwicklung des Nachwuchses haben. Die Substanz ist ein potentes Neuroteratogen und führt bei einem hohen Prozentsatz der Kinder zu Störungen wie Lern- und Gedächtnisschwäche, Hyperaktivität, mentaler Retardierung, emotionalen und Verhaltensauffälligkeiten, die sich bis ins Erwachsenenalter ziehen können. Neueste Untersuchungen2 zeigen einen Zusammenhang zwischen Nikotin-Exposition des Fetus und späteren kognitiv-auditiven Defekten auf. Die Betroffenen können z.B. Sprache in lauter Umgebung nicht verstehen. Kinder von Müttern, die in Schwangerschaft und/oder Stillperiode Nikotin konsumieren, haben auch ein erhöhtes Risiko, an plötzlichem Kindstod (SIDS) zu versterben. Schwangeren und Stillenden sei daher keinesfalls zur Nikotinersatztherapie zu raten – eine Ansicht, der sich übrigens auch das Wiener Nikotininstitut und das Institut für Sozialmedizin anschließen. Auch die pharmazeutische Industrie bewahrt in Österreich eine vorsichtige Haltung und versieht die Beipackzettel der Ersatzprodukte weiterhin mit der Warnung, sie in Schwangerschaft und Stillzeit nicht einzusetzen. Nicht empfehlenswert ist die Ersatztherapie laut Ginzel und Kollegen auch für Jugendliche. Erstens, weil die Nikotinersatztherapie bei dieser Patientengruppe bisher in keiner Studie einen Wirksamkeitsnachweis erbringen konnte. Und zwei­tens, weil ein großes Risiko für übermäßige Zufuhr der Substanz bestehe: Jugendliche rauchen nicht selten zusätzlich zur Ersatztherapie oder konsumieren als Nichtraucher die Nikotinprodukte, was zu schneller Abhängigkeit führen könne. Der rezeptfreie Zugang zu diesen Produkten stelle also offenbar für Jugendliche ein Risiko dar.

Kritischer Umgang

Die neuen wissenschaftlichen Daten, die das Toxikologenteam zitiert, sollten zu einem kritischen Umgang mit der Substanz Nikotin anregen, jedoch nicht zu einer Verteufelung der medikamentösen Raucher-Behandlung führen. Sozialmediziner Prof. Dr. Michael Kunze warnt vor einer generellen Ablehnung der Nikotinersatztherapie, die erwiesenermaßen, natürlich nach strenger Indikationsstellung, für viele Raucher das Mittel zum Weg aus der Sucht mit langfristigem Erfolg darstellt. „In diesen Fällen werden die Risiken durch die Vorteile aufgewogen“, so Kunze. Wo die Nikotinersatztherapie eingesetzt wird, sollte sie Teil eines umfassenden Behandlungskonzeptes sein. Neuberger: „Das Medikament ist kein Wundermittel. Man darf sich nicht mit einem schnellen Rezept die Beratung ersparen.“


Literatur:
1 Ginzel, KH et al.: Critical Review: Nicotine for the Fetus, the Infant and the Adolescent? Journal of Health Psychology 2007; 12; 215-24. https://doi.org/10.1177/1359105307074240
2 Liang, K et al: Neonatal nicotine exposure impairs nicotinic enhancement of central auditory processing and auditory learning in adult rats. In: European Journal of Neuroscience, 24 (3), 857-866.