Kristina Barnekow

Nr.288 WISSENSCHAFT UND TECHNIK
Frankfurter Rundschau Seite 13

Im Sinne des Lebensmittelrechts müßte die Zigarette längst verboten sein

Die erstaunliche Umkehr der Beweislast bei der Schädlichkeit /
Stillschweigende Hinnahme der tödlichen Nebenwirkungen

Seit man weiß, daß Kälbern gewisse „Masthilfen“ injiziert worden sind, ist Kalbfleisch zur Zeit in der Bundesrepublik Deutschland nahezu unverkäuflich. Obwohl bisher keine Todes-fälle durch Genuß „gespritzten“ KaIbfleischs dokumentiert sind, wurden ganze Kälber-bestände nur wegen des Verdachts vernichtet, Gesundheitsgefahren seien nicht auszu-schließen. Auch der Fischverkauf war schlagartig um 60 Prozent zurückgegangen, nachdem im Fernsehen Fische mit Würmern gezeigt und zwei oder drei Fälle erwähnt worden waren, in denen Menschen nach dem Verzehr wurmverseuchter Fische erkrankt waren.
Die Tatsache jedoch, daß in der Bundesrepublik Deutschland nach Aussagen der Bundesregierung Jahr für Jahr rund 140 000 Menschen durch Zigarettenrauchen zu Tode kommen (und daß „unfreiwillig eingeatmeter Tabakrauch weit mehr Todesopfer fordert als alle Umweltschadstoffe zusammengenommen“ (Professor Remmer in „Deutsche Medizinische Wochenschrift“. Heft 26 / 1987), läßt die Raucher unbeeindruckt. Die Zahl von weltweit 2 bis 2,5 Millionen Zigarettentoten pro Jahr (Studie des „Worldwatch Institute“ von 1986) veranlaßte das britische Royal College of Physicians vom „Holocaust unserer Tage“ zu sprechen.
Jahr für Jahr 140 000 Tote: Das sind mehr, als wenn tagtäglich über der Bundesrepublik Deutschland ein vollbesetzter Jumbo abstürzt und kein Passagier überlebt. Wie würde die Öffentlichkeit reagieren, wenn - gegen den erbitterten Widerstand der Flugzeugindustrie und der von ihr bezahlten Gutachter – als einzige Maßnahme jeder Flugschein mit dem Hinweis „Fliegen kann gefährlich sein“ bedruckt werden müßte?
Wenn jemand einen Ertrinkenden aus dem Wasser zieht oder einen verunglücken Bergsteiger in Sicherheit bringt, zeichnet man ihn mit einer Rettungsmedaille aus. Verantwortungsbewußte Ärzte aber, die - um Menschen vor Krankheit und Tod zu bewahren - vor den verheerenden Folgen des Zigarettenrauchens warnen, werden als militant, aggressiv und intolerant verunglimpft.
An der Einstellung zum Rauchen zeigt sich nicht nur eine Spaltung des öffentlichen Bewußtseins, sondern auch eine widersprüchliche Politik. In welchem Umfang hier mit zweierlei Maß gemessen und die Zigarettenindustrie begünstigt wird, läßt sich an sechs Beispielen aufzeigen.
Nach dem Lebensmittelrecht, dem Genußmittel einschließlich Tabakprodukte zugeordnet sind. dürfen nur solche Produkte in Verkehr gebracht werden, deren gesundheitliche Unbedenklichkeit nachgewiesen ist. Obwohl von den rund 6000 (!) im Zigarettenrauch enthaltenen Substanzen eine ganze Reihe als krebserzeugend identifiziert worden sind, wird akzeptiert, daß die Tabakindustrie die Krebs und Herzinfarkt erzeugenden Wirkungen des Rauchens für unbewiesen halten darf.
Weiter schreibt das Lebensmittelgesetz vor, daß Zusatzstoffe deklariert werden müssen. Auch von dieser Pflicht ist die Zigarettenindustrie befreit, obwohl einige ihrer Geschmackszusätze im Verdacht stehen, krebserzeugend zu sein.
Pharmazeutische Firmen können für Medikamente ohne die Mitwirkung von Ärzten keine Zulassung erwirken. Die Zigarettenindustrie jedoch, die ihre mit einer Vielzahl geheimgehaltener, möglicherweise krebserzeugender Zusatzstoffe präparierten Produkte unbehindert auf den Markt bringt, darf sich ihrer gesundheitspolitischen Verantwortung mit dem Hinweis „Wir sind keine Ärzte“ oder „Wir mischen uns nicht in medizinische Diskussionen ein“ entziehen.
Wegen Nitrosamin - Spuren, die tausendfach geringer als die im Tabakrauch enthaltenen Nitrosamin - Mengen waren, wurden zum Beispiel der Farbstoff Buttergelb, der Süßstoff Zyklamat und das Arzneimittel Aminophenazon verboten. Medikamente, denen man - und sei es nur in wenigen Einzelfällen – schwere Nebenwirkungen anlastet, werden aus dem Markt genommen. Die tödlichen „Nebenwirkungen“ von Zigaretten auf Lunge, Kehlkopf, Speiseröhre, Magen, Herz, Gefäße usw. aber werden stillschweigend hingenommen.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat das Passivrauchen am Arbeitsplatz in die Liste der potentiell krebserzeugenden Arbeitsstoffe aufgenommen. Nach den Arbeitsschutz-bestimmungen müßte Zigarettenrauch an Arbeitsplätzen ebenso wie zum Beispiel Kohlenmonoxid überwacht werden. Die Bundesregierung hatte schon 1974 festgestellt, daß die im Zigarettenrauch enthaltenen Schadstoffe eigentlich - bei strikter Anwendung der Arbeitsschutzvorschriften - das Anlegen von Atemschutzmasken zur Folge haben müßten. Wäre im Brustkorb eines Rauchers ein Meßgerät eingebaut, das bei gefährlichen CO-Konzentrationen Alarm auslöst, würde es bei jedem Lungenzug klingeln.
Ganz allgemein gilt der präventivmedizinische Grundsatz, unter keinen Umständen Schaden zu stiften und schon bei begründetem Verdacht Gegenmaßnahmen zu treffen. Bei einem so hoch anzusetzenden Schutzgut wie der menschlichen Gesundheit müßte - wie zum Beispiel bei Buttergelb - schon ein möglicher, wenn auch nicht besonders wahrscheinlicher Schadenseintritt ausreichen. Der Philosoph Hans Jonas spricht von der ethischen Vorschrift, der Unheilsprophezeiung mehr Gehör zu geben als der Heilsprophezeiung. Daß man sich bei einem angenommenen Gefahrenpotential für die sichere und nicht - wie bei der Zigarette - für die unsichere Option entscheidet, gilt als selbstverständlich.
Ginge es nach dem Wortlaut des Lebensmittelgesetzes, müßten die Zigarettenhersteller die Unschädlichkeit ihrer Produkte beweisen. Statt dessen hat man den Medizinern die Beweislast für d ie Schädlichkeit der Zigarette zugeschoben und damit alle aus der epidemiologischen Ursachenforschung gewonnenen Erkenntnisse beiseitegewischt: Daß man die Ursache einer Seuche aufspürt, indem man die Lebensumstände kranker und gesunder Menschen miteinander vergleicht. Und daß man Menschen rettet, wenn man ihnen die offensichtlich krankmachenden Verhaltensweisen abgewöhnt.
Als 1854 im Londoner Stadtteil Soho innerhalb von zehn Tagen etwa 500 Menschen an der Cholera starben, empfahl Dr. Snow den Behörden, von der dortigen Pumpe den Schwengel abzumontieren. Da alle Erkrankten aus derselben Pumpe ihr Wasser bezogen hatten, war ihm der Verdacht gekommen, die Cholera könne durch verseuchtes Wasser verbreitet werden. Als ohne Pumpenschwengel kein Wasser mehr entnommen werden konnte, verschwand die Cholera. Hätte man einen Kausalbeweise gefordert, hätte man noch 29 Jahre - bis zur Entdeckung des Cholera - Bazillus - warten müssen.
Aber die Erkenntnisse, mit denen man Cholera und Pest so gut wie ausgerottet hat., haben bei einem bestimmten Krankheitserreger keine Gültigkeit. Nachdem man beobachtet hat, daß die meisten Lungenkrebstoten jahrzehntelang Zigarettenrauch eingeatmet haben, scheinen Tabakfirmen nicht auf den Gedanken zu kommen, hier könne ein Zusammenhang bestehen. Zu irgendwelchen Aktivitäten sehen sie keinen Anlaß.
Aktiv wurden die Zigarettenmanager jedoch, als im Hamburger „Forschungsinstitut der deutschen Cigarettenindustrie" passivrauchende Goldhamster an Kehlkopfkrebs und zwangsrauchende Schweine an Arteriosklerose erkrankten. Allerdings nahmen sie nicht ihr offensichtlich gesundheitsschädliches Produkt aus dem Markt, sondern brachen die Forschungen ab und schlossen das Institut. Nach wie vor bestreiten sie ursächliche Zusammenhänge zwischen Rauchen und Lungen-, Herz- und Gefäßkrankheiten, während die Bundesregierung 30 Prozent aller Krebstodesfälle dem Rauchen anlastet.
Seltsamerweise läßt man die Zigarettenindustrie darüber bestimmen, mit welcher Art von Beweisen die Gesundheitsschädlichkeit des Rauchens nachgewiesen werden muß. Man akzeptiert, daß Zigarettenmanager die erdrückenden und keinen Zweifel lassenden epidemiologischen Korrelations- und Wahrscheinlichkeitsergebnisse angesehener Wissenschaftler als falsch zurückweisen, ignorieren oder verharmlosen.
Den von der Zigarettenindustrie geforderten Ursachenbeweis könnte man „Billardkugel - Beweis“ nennen, da bei ihm Ursache und Wirkung so offenbar sein müssen wie bei einer Billardkugel, die eine andere Kugel anstößt und in Bewegung setzt. Die vom „British Medical Journal“ als „Verkäufer des Todes“ und „Massenmörder“ bezeichneten Tabak - Bosse aber wissen, daß selbst bei dem Medikament Contergan ein objektiver Ursachenzusammenhang mit embryonalen Schädigungen nicht erbracht werden konnte und daß die Krankheit und Tod bringenden Wirkungen der Zigarette nur von KZ - Ärzten an „menschlichen Versuchskaninchen“ bewiesen werden könnten.
Aus Sicht der Forschung ist ein solcher „Billardkugel - Beweis“, der dem wissenschaftlichen Standard des 19. Jahrhunderts entspricht, völlig überflüssig. Weil lgnaz Semmelweis einen solchen Beweis für seine Vermutung, Kindbettfieber werde durch Ärzte und Hebammen übertragen, nicht führen konnte, lehnte die damalige Schulmedizin seine Lehre und seine Hygienemaßnahmen ab.
Wenn - wie bei der Cholera, dem Kindbettfieber und dem Zigarettenrauchen - viele Anzeichen auf eine bestimmte Ursache hindeuten, ohne daß es plausible Gegenargumente gibt, ist eine Art „Stinktier - Beweis" völlig ausreichend („Wenn ich ein Tier sehe, das wie ein Stinktier aussieht, sich wie ein Stinktier bewegt und wie ein Stinktier stinkt, dann kann es nur ein Stinktier sein.“). In diesem Sinne hat zum Beispiel das Bundessozialgericht Asbestose als Berufskrankheit anerkannt, obwohl ein Ursachenzusammenhang zwischen dem Einatmen von Asbeststaub und der Krankheit nicht n achgewiesen ist, sondern nur als wahrscheinlich angesehen wird.
Einer der Hauptstreitpunkte ist die Wirkung der Zigarettenwerbung, und zwar insbesondere auf Jugendliche. Die Zigarettenindustrie behauptet, sie habe „noch nie heranwachsende Menschen zum Rauchen veranlassen wollen“. Anders klang die Aussage des früheren Reemtsma - Vorstandsvorsitzenden Wiethüchter vor der Hauptversammlung im Jahre 1981: Kein Zigarettenmanager könne ruhig schlafen, der nicht sicher ist, daß seine Werbung bei der künftigen Rauchergeneration ankommt.
Die angeblich wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis, die an erwachsene Raucher gerichtete Werbung bleibe bei Jugendlichen „praktisch unbeachtet“, wird in der Broschüre „Fakten ohne Filter“ mit einem verkürzt wiedergegebenen Zitat belegt, In der Originalveröffentlichung nimmt dieses Zitat jedoch nur Bezug auf Kinder, die noch nicht lesen können. Man sollte es nicht für möglich halten: Bei einem der wichtigsten gesundheitspolitischen Probleme werden die Ergebnisse von rund 50000 wissenschaftlichen Arbeiten einfach vom Tisch gewischt, während man sich bei der anfechtbaren These, Zigarettenwerbung sei bei Jugendlichen unwirksam, mit einer einzigen äußerst dubiosen Quelle begnügt.
So selbstbewußt die Werbewirtschaft ihre Fähigkeit herausstreicht, Umsätze steigern und die Konjunktur ankurbeln zu können, so bescheiden gibt sie sich bei Zigaretten: Hier könne sie den Verbrauch nicht erhöhen, sondern nur Marktanteile verschieben. Der amerikanische Werbemanager Emerson Foote hat jedoch bei einem Hearing in Toronto („Journal of American Medical Association”, Heft 16 / 1981) die Karten aufgedeckt: Die Behauptung, Zigarettenwerbung habe nichts mit Verkäufen zu tun, sei ausgesprochener Unsinn, und die Tabakindustrie wisse, daß es Unsinn ist Ihn amüsiere der Hinweis, daß die Werbung, die bei praktisch jedem anderen Produkt ihre konsumsteigernde Wirkung erwiesen hat, wie durch ein Wunder bei Tabakprodukten versagen soll. Diese Behauptung solle nur die Beschränkung von Verkaufsförderungsmaßnahmen verhindern. Tatsächlich wurde die Tabakwerbung in Kanada verboten.
Zigarettenwerbung wirkt jedoch noch in anderer Weise. Durch ihre Allgegenwart - an Bushaltestellen, Kiosken und Plakatwänden, auf Sonnenschirmen, Gasthausschildern und Speisekarten usw. oder an Formel -1 - Rennwagen und Rennfahrermonturen auch im Fernsehen auftauchend und so das Werbeverbot unterlaufend - erscheint die Zigarette als ein Produkt, das zum täglichen Leben gehört. Durch Abbildung von unbeschwert rauchenden jungen Menschen („Ich rauche gern“) oder Cowboys sollen die Betrachter emotional so konditioniert werden, daß sie das Rauchen mit Lebensfreude, Spaß, Freiheit, Abenteuer, weiter Welt und Glarnour assoziieren und die hinter dieser Kulisse verborgene Welt der Intensivstationen, Herzschrittmacher, Krücken Rollstühle und Grabsteine nicht wahrnehmen.
Da ein generelles Vertriebsverbot für Zigaretten politisch nicht durchsetzbar ist und die zu einem großen Teil nikotinsüchtigen Raucher ihren Bedarf sonst auf Illegale Weise decken (und kriminell werden) wurden, läßt man die problematische und widersprüchliche Situation unangetastet, Die Hersteller betonen, die Zigarette sei ein legales Produkt, was jedoch nur teilweise zutrifft: Zum Beispiel ist es Jugendlichen verboten, in der Öffentlichkeit zu rauchen; verboten ist die Zigarettenwerbung im Fernsehen und Hörfunk; verboten ist auch das Rauchen in der Nähe feuergefährlicher Anlagen und von Lebensmitteln.
Schon vor etlichen Jahren wurde in der Bundesrepublik Deutschland ein Fleischer zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er neben aufgehängtem Schweinefleisch geraucht hatte. Eines solchen gesetzlichen Schutzes und der Gleichbehandlung mit totem Schweinefleisch können sich Passivraucher noch nicht erfreuen. Erst allmählich beginnt sich in der Rechtsprechung die Auffassung durchzusetzen, daß das Recht des Nichtrauchers auf körperliche Unversehrtheit höher einzustufen ist als der Anspruch, durch Rauchen in Gegenwart anderer „seine Persönlichkeit frei zu entfalten.“
Auf die Frage nach der Ursache für diese vielen Widersprüche bleibt nur eine Antwort: Die Zigarettenindustrie ist Bestandteil einer weitverzweigten, wohlorganisierten, durch geschäftliche Interessen zusammengehaltenen, in Medien und Politik festverwurzelten Infrastruktur. Sie trägt zum Bruttosozialprodukt bei, stellt (wenn auch immer weniger) Arbeitsplätze zur Verfügung, bietet Händlern und Automatenherstellern Verdienstmöglichkeiten, importiert und exportiert, ist spendabel gegenüber Parteien und ihrer Lobby, sponsert Kunst und Autorennen, weiß auch Mediziner und Juristen zu gewinnen und mit deren Gutachten geschickt zu operieren. In dieser Infrastruktur verkörpert sich viel Macht, die es versteht, Einfluß auszuüben und ihre Interessen durchzusetzen.
Nicht in den medizinischen Forschungslaboratorien und auch nicht in den politischen Gremien wird das Zigarettenproblem gelöst. Nur die öffentliche Meinung entscheidet, ob Rauchen nachahmenswertes Verhalten oder Ärgernis und der Raucher Leitbild oder Negativ - Figur ist. Ein deutliches Zeichen für die Furcht der Zigarettenindustrie vor der öffentlichen Meinung ist die Werbekampagne, die Rauchen als Bürgerrecht propagiert und die Toleranz von Nichtrauchern auszubeuten versucht Der überraschende Sieg einer Nichtraucherliste bei der letzten Siemens – Betriebsratswahl ist ein unübersehbares Signal dafür, daß der Raucher mehr und mehr auf Widerstand stößt.
Auch Politiker und die von der Zigarettenwerbung profitierenden Medien können diesen Trend nicht ignorieren. Bundestagskandidaten müssen sich fragen lassen. was sie für den Nichtraucherschutz tun wollen. Und früher oder später wird auch die Bundesregierung – wenn nicht aus Überzeugung, dann aus Opportunismus - um Entscheidungen nicht herumkommen.
Quelle: http://www.ioff.de/showthread.php?t=142324&page=45